Sebastian Castellio trat als Bibeldichter, Bibelübersetzer und Schulbuchautor in die Fußstapfen des Erasmus von Rotterdam. Die Dialogi sacri, biblische Geschichten in Gesprächsform, erschienen seit 1545 in immer neuen Auflagen und waren in protestantischen und in katholischen Schulen bis 1800 in Gebrauch. Castellio übersetzte die Heilige Schrift in ciceronisches Latein (Biblia latina,1551) und übertrug sie in die französische Volkssprache (La Bible nouvellement translatée, 1555). Seit 1554 konnte er, aus Genf sorgfältig überwacht, nur noch wenige Schriften in Druck bringen, schon gar nicht seine Entgegnungen auf die Angriffe Calvins und Théodore de Bèzes. Die politisch einfluss- und wirkungsreichste Spätschrift war sein Conseil à la France désolée (anonym gedruckt 1562). Das Plädoyer für eine Koexistenz der verfeindeten konfessionellen Parteien unter der Ägide des unparteilichen Königs wies der modernen Auffassung vom laizistischen Staat einen Weg. Castellios philosophisches Vermächtnis ist in den Dialogi quatuor enthalten, die 1578 mit kleineren theologischen Texten aus seinem Nachlass von Fausto Sozzini herausgegeben wurden. Mit der Gesprächsform und den verhandelten Themen, religiöse Toleranz, irdische und göttliche Gerechtigkeit und Willensfreiheit, erweist sich Castellio als Nachfahre des Erasmus von Rotterdam. Castellios rationaler Zugang zur Bibel, deren Texte nach denselben hermeneutischen Regeln zu interpretieren seien wie andere Texte des Altertums, nimmt die Methode, die Baruch de Spinoza im Tractatus theologico-politicusempfiehlt, vorweg. Diese Bibelhermeneutik erschien erst 1981 im Druck.
Der 500. Geburtstag des Humanisten und religiösen Non-Konformisten aus Savoyen war ein willkommener Anlass, seine Argumente gegen Verfolgung und Tötung von Ketzern, für Gewissensfreiheit und religiöse Toleranz zu erörtern, seine Werke neu herauszugeben und über die Aktualität seines Vorschlags für die friedliche Koexistenz religiöser Gemeinschaften unter der Bedingung des Gewaltverzichts und der Einigung auf moralische Normen (Dekalog, Naturrecht) zu diskutieren. Dazu war vom 13. bis 16. September 2015 auf einer internationalen Tagung Gelegenheit. Auf dem Monte Verità standen Castellios streitbares Toleranzkonzept, seine Stellung zur Reformation, sein weit über Basel hinausreichendes Beziehungsnetz, die Verbreitung seiner Schriften und die Überlieferungsgeschichte der handschriftlichen Quellen zur Diskussion.
Wir danken den Congressi Stefano Franscini, der ETHZürich, der SAG Germanistik, dem Institut für Reformationsgeschichte der Universität Zürich und der Mittelbauvereinigung der Phil.-Hist. Fakultät der Université Fribourg für die großzügige Unterstützung der Tagung von 2015
Gerechtigkeit, Gewissens- und Willensfreiheit, friedliche Konfliktregelung und universelle moralische Normen sind die Themen, die Castellio in lateinischen Gedichten, philosophischen Dialogen und theologischen Streitschriften behandelt.
(UB Basel, Handschriftenabteilung)
Sebastianus Castalio Bonifacio Ammerbachio, iurisperitorum disertissimo, s.p.d. Prudentissime iuris atque legum, Tu scis, cum veniunt noue calendae Iani, dona solere missitari, Faustis auspiciis vt annus intret. Sed sicut neque carduus racemos Emittit nec amara sobra vitis, Sic largum mea non valet crumena Munus mittere, flaccida atque inanis, Nec tu talia dona poscis a me. Sed quod mittere me decet licetque, Et quod fabricat officina nostra, Et quod tu capias libenter a me, Mitto: carmina. Vile munus hoc est, Si parui facies; erit sed ingens, Si magni facies meaque pendes Ex mente. Haec etenim vana prestat, vt sit Aurum, si mala, vilius papyro, auro, si bona, charior papyrus. (Sebastian Castellio an Bonifaz Amerbach, den Star unter den Rechtsgelehrten Höchst gelehrt in der Jurisprudenz und den Gesetzen, weißt du, dass, wenn im Januar ein neuer Kalender kommt, gewöhnlich Geschenke versendet werden, damit das neue Jahr mit glücklichen Vorzeichen beginnen möge. Aber so wie weder die Distel Zweige hervorbringt noch die bitteren Früchte des Vogelbeerbaums Trauben, erlaubt mir mein Geldbeutel nicht, dir ein grosses Geschenk zu schicken, er ist welk und leer, aber du forderst solche Geschenke auch nicht von mir. Was sich für mich ziemt und mir dir zu schicken erlaubt ist, was unsere Offizin herstellt und was du gern von mir empfängst, schicke ich: meine Verse. Es ist ein geringfügiges Werk, wenn du es gering schätzst, aber es wird ungeheuer sein, wenn du es wert schätzst und mir wohl gesonnen bist. Einzig deine Gesinnung zeigt nämlich an, dass es Gold wert ist. Wenn sie schlecht sind, ist es weniger wert als das Papier, wenn sie gut sind, ist das Papier kostbarer als Gold. – Übersetzung: Barbara Mahlmann-Bauer)
Transkription in: Alfred Hartmann/ Beat Rudolf Jenny (Hg.): Die Amerbachkorrespondenz, Bd. 6: Die Briefe aus den Jahren 1544-1547. Basel 1967, Nr. 2891, 1. Januar 1547, S. 366-369.