SEBASTIAN CASTELLIO
2015 Aktivitäten

Religionen: Toleranz oder Intoleranz

Vortragsreihe im Rahmen des „Collegium generale“ in der Universität Bern (Herbstsemester 2015, Mittwoch 18-20h, Audimax)

Collage aus De haereticis, Von Ketzeren, Traicté des heretiques, Simon Siegrist.

Ankündigung

- Ist der neuzeitliche Verfassungsstaat der einzige Weg zu einem friedlichen religiösen Pluralismus?
- Sind Säkularisierung und Rationalisierung Sonderwege des Okzidents, welche Gläubige aus ehemaligen Kolonien zugunsten einer politischen Theologie verurteilen?
- Welche Alternativen auf dem Weg zur post-säkularen Gesellschaft gibt es zum laizistischen Staat, wenn sein republikanisches Selbstverständnis religiöse Indifferenz gebietet und daher von religiösen Minderheiten als diskriminierend abgelehnt wird?
- Wie können in einer westlichen Demokratie Grenzen der Toleranz so gesetzt werden, dass ihre Gegner sie nicht ausser Kraft setzen können?
- Kann die Vergegenwärtigung, wie im Lauf der Geschichte, nach unlösbarem Streit und Blutvergiessen im Namen der Religion, Gewissensfreiheit erstritten, Toleranz gefordert und gewährt wurde, dabei helfen, zivile Lösungen im Clash der religiösen Kulturen zu finden und die offene Gesellschaft vor der Selbstzerstörung durch grenzenlose Toleranz zu bewahren?

Auf diese aktuellen Fragen versuchen die Vorträge im systematischen Vergleich von Konzepten religiöser Toleranz oder in historischen Fallstudien Antworten zu geben.

Toleranz bewährt sich bei der Lösung von Konflikten, erklärt Rainer Forst. Religiöse Toleranz, für die sich in Europa die wegen ihres Glaubens Verfolgten und nach blutigen Religionskriegen aufgeklärte Herrscher einsetzten, soll die gesellschaftliche Bedrohung durch unversöhnlichen Dissens gegnerischer Religionsvertreter auffangen. In der globalen Welt ruft der „Pluralismus der Weltanschauungen ... Toleranz auf den Plan“, stellte Jürgen Habermas fest. Toleranz setzt „einen nicht verhandelbaren Dissens“ über religiöse Annahmen, moralische Normen und Lebensformen voraus. In der post-säkularen Gesellschaft bedeutet Toleranz für Gläubige und Ungläubige eine „Zumutung“. Sie verlangt, „dass die von der eigenen Religion vorgeschriebene Lebensweise oder das dem eigenen Weltbild eingeschriebene Ethos einzig unter der Bedingung gleicher Rechte für jedermann realisiert werden dürfe.“

Kontroversen über Rechtgläubigkeit und Häresie in der Reformationszeit, die Religionskriege in Frankreich und den Niederlanden, der Friedensschluss nach dem Dreissigjährigen Krieg und die amerikanischen Bürgerkriege erwiesen sich als „Schrittmacher“ auf dem Weg zur Toleranz, die mehr ist als blosse Duldung, vielmehr fremde Weltanschauungen anerkennt und ihre Vertreter respektiert. Toleranz fordert, wie Habermas erklärt, die „eigenen Glaubensüberzeugungen in ein ... Verhältnis zur Tatsache des religiösen und weltanschaulichen Pluralismus zu setzen“. Voraussetzung dafür ist die Anerkennung von Menschenrechten. Das Problem ist, dass diese erst mit den nicht verhandelbaren Dogmen und den Grundwerten der grossen Religionen in Einklang zu bringen sind. Post-säkulares Denken, das nach den Rahmenbedingungen einer politischen Kultur für religiösen Pluralismus forscht und nach seinen Wurzeln fragt, tut gut daran, die religiösen Traditionen und die Konkurrenz religiöser Weltbilder mit zu berücksichtigen.
Der zivile Umgang mit Andersgläubigen und Ungläubigen erfordert von Gläubigen, gleich, welcher Religion, einen Lernprozess. Zu diesem haben während der Reformation die jungen christlichen Partikularkirchen im Kampf um Selbstbehauptung Anstösse gegeben. Islamische Gesellschaften haben Erfahrungen mit der friedlichen Integration Andersgläubiger, etwa während der osmanischen Okkupation Ungarns im 16. Jahrhundert, und duldende Toleranz früh ins islamische Recht integriert. Antisemitismus, Rassismus und religiöser Fundamentalismus verweigern sich diesem Lernprozess. Wer im Namen der Religion die Menschenrechte missachtet und die geltenden Gesetze ignoriert, um ‚Ungläubige’ zu richten, hat keinen Anspruch auf Toleranz, sondern hat diesen Lernprozess noch vor sich.

Literatur:
Rainer Forst: Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs. Frankfurt 32012.
Jürgen Habermas: Religiöse Toleranz als Schrittmacher kultureller Rechte. In: Ders.: Zwischen Naturalismus und Religion. Frankfurt 2005, S. 258-279.
Gudrun Krämer: Islam und Toleranz. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 9 (2005), 1119-1129.
Ole Peter Grell/ Bob Scribner (Hg.): Tolerance and Intolerance in the European Reformation. Cambridge 1996.
Katajun Amirpur: Den Islam neu denken. Der Dschihad für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte. München 2013.

 Vorlesungsprogramm des Collegium Generale (pdf-Datei)