SEBASTIAN CASTELLIO
Zitate aus Sebastian Castellios Schriften

Lateinische Bibelübersetzung (Frankfurt am Main 1697) mit dem frühesten fiktiven Porträt Castellios (UB Basel: FG IV 59), vgl. Guggisberg 1997, Abb. 3.

De haereticis an sint persequendi

Die deutsche Übersetzung wurde 1555 in Strassburg von Adam Frisius verlegt: Von Ketzeren. Ob man auch die verfolgen oder wie man mit jnen handlen solle/ des D. Martini Lutheri vnnd Johann Brentij/ auch anderen viler der alten vnd vnserer zeyten glerten meinung vnnd bericht. Ein Büchlein in diser schwerer zeyt gantz notwendig allen menschen/ sonderlich den vorstenderen vnd Oberkeyten/ gantz nutzlich/ darauß zuolernen/ was jr ampt seye/ in einer so zweyfelhafftiger vnnd gefarlicher sache. (Strassburg 1555)

Als ich jm offt nach trachtet habe/ was ein Ketzer were/ hab ich nichts anders erfunden/ was ein Ketzer sye/ dan der mit vns nit einhellig ist/ vnn mitstimmt/ das kan man darbey abnemmen/ das ye ein sect (deren dann yetz vil seind) die andere für Ketzer hatt/ als wann du in einer statt oder Land recht gelaubest/ so hat man dich in der nechsten nach deren für ein Ketzer/ also das wer heut leben wil/ der muoß schier souil glauben haben/ als vil stett oder secten sind.

Gleich wann einer über feld gadt so muoß er offt gelt wechßlen/ dann es gilt nit allenthalb allerley müntz/ außgenommen was gulde müntz seind/ die gelten allenthalb/ was sye auch für schlag haben. Also gath es in glaubens sachen/ da ist auch ein guldine müntz die allenthalb giltet/ was auch für schlag darauff seye/ Als namlich: das man glaube in Gott Vater/ vnd seinen Sun Christum/ vnd den heiligen Geist/ vnn man die gebott von der frommkeit/ die in heiliger geschrifft verfasset seind/ (10v ) zuolasse/ das ist die recht guldin müntz/ vnnd über alles gold bewert vnd probiert/ aber diese müntz hat vilerley bildnus/ nammlich dieweil vilerley zweytracht seind im nachtmal des Herren vnnd seinem tauff.

In solchem stünde es vns zuo das ye einer den anderen duldete/ vnd nit gleich des anderen glauben auff Christum gegründt verdampte.

(Von Ketzern, ob man sie auch verfolgen oder wie man mit ihnen verfahren soll. Ansichten und Zeugnisse Martin Luthers und Johannes Brenz, auch vieler anderer alter und zeitgenössischer Gelehrter.
Ein Büchlein, das in dieser schweren Zeit allen Menschen höchst nötig ist, besonders nützlich den Politikern und Obrigkeiten, woraus man lernen kann, welche Aufgabe sie in dieser ungewissen, gefährlichen Sache haben. [Strassburg 1555]

Oftmaliges Nachdenken über die Definition eines Ketzers hat mich zu keinem anderen Schluss gebracht als dem: Ein Ketzer sei der, der mit uns nicht übereinstimmt. Dies kann man daran erkennen, dass eine jede Sekte (und jetzt gibt es viele) die andere für Ketzer hält, gleichsam wie wenn du in einer Stadt oder einem Land rechtgläubig bist, hält man dich in der bzw. dem nächsten für einen Ketzer. Woraus folgt: wer heute überleben will, der muss schier so viele Glauben haben wie es Städte oder Sekten gibt.

Machen wir uns dies klar an einem, der querfeldein über Land geht und daher oft Geld wechseln muss, denn es gilt nicht überall ein und dieselbe Münze, abgesehen von Goldmünzen, die gelten überall, gleich, welche Prägung sie haben.
Ebenso verhält es sich in Glaubenssachen: Da gibt es auch eine Goldmünze, die überall gilt, gleich welche Prägung sie hat, wie zum Beispiel, dass man an Gottvater und seinen Sohn Christus und den Heiligen Geist glaube, auch dass man die Gebote der Frömmigkeit, die in der Heiligen Schrift verfasst sind, akzeptiert. Dies ist die rechte Goldmünze, über alles Gold bewährt und erprobt. Nur hat diese Münze vielerlei Prägung, weil nämlich viele Kontroversen über das Abendmahl und die Taufe existieren.
Dementsprechend stünde es uns wohl an, dass wir uns gegenseitig duldeten und nicht gleich den Glauben des anderen, der auf Christus gegründet ist, verdammen.)


(Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek München)

Dialogi quatuor

Im ersten Dialog „De praedestinatione“ verteidigt Ludwig Calvins Lehre von der doppelten Prädestination gegen Friedrichs Einwände und gibt sich zum Schluss geschlagen: „Te me semper ducis ad absurda“ (Du führst mich immer zu absurden Behauptungen). Dies liegt daran, daß Ludwig von falschen Prinzipien ausgeht, aus denen, wie Friedrich (alias Castellio) zeigt, nur Absurdes folge. Wenn er weiter so fortfährt, wird er gezwungen sein, noch Absurderes zuzugeben!
Zum Beispiel:
1.) Angenommen, der Dekalog enthält nur Gesetze (in Form von Verboten), durch die Gott seinen Willen offenbart. Angenommen auch, daß er sie für alle, Juden, Ungläubige und später die Christen, erlassen hat. Wenn er nun einige Menschen zur Verdammnis, also zum ewigen Tod, vorherbestimmt hat, gilt notwendig, daß „Du sollst nicht töten“ für die Frommen bedeutet, daß es ihnen verboten sei zu töten. Für die Gottlosen, die zum Verderben vorherbestimmt wären, hätte dieses Gebot aber die konträre Bedeutung: Du sollst gerade töten.
2.) Nach dem Gesetz des ausgeschlossenen Dritten kann nicht etwas einem Subjekt zugesprochen und gleichzeitig in derselben Weise abgesprochen werden. Die Sünde zu wollen und sie nicht zu wollen, sind zwei kontradiktorisch entgegengesetzte Prädikate. Diese schreiben Calvins Anhänger Gott zu, was absurd ist.
3.) Wenn Gott per definitionem einen verborgenen Willen haben soll, durch den er einige zur Verdammnis bestimmt hat, wie kommt es, daß Calvin und seine Anhänger diesen Willen kennen und auslegen, als ob er ihnen offenbart worden wäre? Wie kann das sein? Wenn er aber einigen offenbart ist, kann er nicht mehr als verborgener Wille bezeichnet werden.
4.) Wenn Gott explizit die Sünde verbietet, sie also erklärtermaßen nicht will, sie in Wirklichkeit aber, nach seinem verborgenen Ratschluß, doch will, wäre er ein Heuchler, der etwas anderes öffentlich erklärt, als was er eigentlich will, und dies so beschlossen hat, daß niemand diesem Ratschluß entgehen kann.
5.) Wer gottesfürchtig ist, will und soll Gott nachahmen und Christus nachfolgen. Also wenn Gott zwei Willen hat, einen offenbaren und einen heimlichen, sollen auch die, die ihm nachfolgen wollen, danach streben, zwei Willen zu haben. Friedrich glaubt, daß die Calvin-Anhänger sich, als Heuchler, ihren Gott so vorstellen, wie sie selbst sind. Sie verhalten sich also wie Maler, die, wenn sie den Auftrag erhalten, Gott zu malen, ihn nach menschlichem Ebenbild malen, weil sie nicht wissen, wie Gott aussieht. So auch die Anhänger Calvins: Sie statten Gott mit den Eigenschaften eines Hypokriten aus, weil sie ihn nach ihrem Ebenbild modeln. Denn auch sie wollen heimlich die Sünde, während sie diese mit öffentlichen Worten verbieten, und diese Hypokrisie projizieren sie dann auf ihren Gott. 6.) Der Teufel ist Gott so entgegengesetzt, wie die Finsternis dem Licht. Wenn Gott aufgrund seines heimlichen Willens die Sünde will, sie aber in seiner öffentlichen Willenserklärung verbietet, folgt notwendig, daß es sich beim Teufel genau umgekehrt verhält. Heimlich will er die Sünde nicht, öffentlich befiehlt er sie gar. Gott proklamiert nach dieser Vorstellung das Gute, hat aber Böses im Herzen; umgekehrt verhält sich der Teufel. Es ist aber viel schlimmer, eine gute Absicht betrügerisch vorzugeben als eine schlechte. Wenn Gott die Sünde will, will der Teufel sie nicht. Wenn jeder von beiden sie will, ist Gott mit dem Teufel identisch: „sunt unum & idem Deus & Diabolus“ (Dialogi quatuor, Gouda 1612, S. 10-12).

Castellio argumentiert höchst anschaulich und appelliert an die gesunde Vernunft. Über Gottes Gerechtigkeit muß nach menschlicher Art geurteilt werden können, ähnlich wie über Gottes Vorherwissen, welches wir nur analog nach menschlichem Ermessen begreifen können. Die Gerechtigkeit kann mit sich selbst nicht im Widerspruch stehen, also nicht gleichzeitig Ungerechtigkeit sein.
Wenn nun dein Vater zu deiner Erzeugung folgenden Beschluß gefaßt hätte: „Ich möchte einen Sohn zeugen, den ich töten kann. Um aber Grund und Gelegenheit zu haben, ihn zu töten, erschaffe ich ihn ohne Füße, dann befehle ich ihm, er solle laufen, und weil er nicht laufen kann, will ich ihn dann töten.“ Wäre ein solcher Vater nicht ungerecht? Der arme Krüppel ohne Füße könnte ihm vorwerfen: Warum strafst du mich für etwas, was zu bewirken gar nicht in meiner Macht steht? Ich würde gerne laufen, aber ich weiß nicht, wie das geht! Wenn dich analog Gott so erschaffen hätte, daß du das Gute gar nicht zu tun in der Lage wärest, und wenn er dir daraufhin befehlen würde, Gutes zu tun, und, weil du es nicht zu tun vermagst, dich umbringt, wäre ein solcher Gottvater als höchst ungerecht zu bezeichnen. Denn dieser Befehl Gottes wäre so wie der Befehl an einen, ohne Füße zu laufen, wozu er aber gar nicht erschaffen worden wäre, weil ihm die Füße fehlten. Strafe, der Entzug eines Guts, das andere haben und nutzen, kann also nur Folge für eine Handlung sein, die moralisch in meine Verantwortung fällt und zu deren Ausführung ich physisch die Möglichkeit habe.“ (Ebd., S. 46)


Sebastian Castellio an Felix Platter, Basel, 20. Juli 1556 (Autograph Basel, UB Handschriftenabteilung, Briefsammlung Frey-Grynaeisches Institut)

Sebastian Castellio an Felix Platter

Transkription von Ferdinand Buisson 1893, Bd. 2, Nr. 52, S. 425

Sebastianus Castalio Felici Plattero S. Rogatus, ut saepe antehac a patre tuo, scribo tibi, mi Felix, ut per felicitatis viam incedas; hoc est ut ea facias quae facientes felices pronunciat Magister apud Matheum cap. 5, 6 et 7. Memineris vitam brevem, artem longam et oportere non solum medicum sed etiam aegrotum fungi officio. Medicus Christus non deerit suo: tu ne tuo desis. Da operam et noli committere ut te dormientem illa dies opprimat. Vale, mi Felix. Die 29 Julii 1556.

(Auf die Frage deines Vaters schreibe ich dir, lieber Felix, wie früher schon oft, damit du auf glücklichem Wege fortschreiten mögest, das heisst, damit du das tust, was dich selig macht, wie es der Meister in der Bergpredigt des Matthäusevangeliums ausspricht. Du sollst daran denken, dass das Leben kurz, die Kunst lang ist, auch dass nicht nur der Arzt, sondern auch der Kranke seine Aufgabe tun muss. Christus wird seine als Arzt nicht verfehlen: du sollst deine ebenso wenig verfehlen. Pass auf, und lass es nicht zu, dass dich der Todestag im Schlaf überraschen möge. Leb wohl, lieber Felix. Am 29. Juli 1556).


(Exemplar der Bibliothèque Nationale, Paris)

Conseil à la France désolée

„Le Turc maintient bien les Chrestiens & Iuifs ses subietz contre la uiolence qui leur pourroit estre faite, & les maintient non a cause de leur religion, laquelle il a en dedain, mais a cause qu’ilz sont ses subiects. Le mesme font les princes Chrestiens aux Iuifs. Ainsi pourront ilz maintenir leurs subiects quels qu’ilz soyent, contre toute uiolence qui leur pourroit estre faite.“

(Der Osmane schützt die Christen und Juden, seine Untertanen, gut gegen etwaige gegen sie verübte Gewalt. Er schützt sie nicht aufgrund ihrer Religion, für die er Verachtung hat, sondern weil sie seine Untertanen sind. Das gleiche praktizieren die christlichen Fürsten gegenüber den Juden. So können sie jedwede Untertanen gegen jedwede potentielle Gewalt schützen.) (Conseil à la France désolée [1562], S. 92).